Dann begann er zu Spielen: kaum hörbar erst, nur ein wenig mehr als ein Hauch, der sich langsam, unendlich langsam steigerte – bis der Klang das Bohemien erfüllte. Ich saß da und vergaß, wie man atmete.
Er hatte für mich schon vorher gespielt, aber das hier ... war etwas anderes. Julien stand keine Sekunde wirklich still. Es war, als ... würde er eins mit seinem Instrument, der Musik – und mit mir, auch wenn ich nur wie gebannt auf meinem Stuhl saß, denn er löste seinen Blick nicht ein Mal aus meinem, während er zum mich herumschritt; mal innerhalb, mal außerhalb des Kreises aus Kerzenflammen. Das polierte Holt der Geige schimmerte bei jeder Bewegung in ihrem Licht. Und die ganze Zeit veränderte sich Juliens Miene, so als habe er nicht nur die Melodie um Kopf, sondern auch jedes Wort der dazugehörigen Texte. Er spielte Stücke, von denen ich nie angenommen hätte, dass jemand ihnen mit einer einzigen Geige überhaupt spielen könnte. Seine Bewegungen änderten sich, als würde er bei Liedern, die eigentlich Duett waren, die Persönlichkeit wechseln. Seine Finger tanzten über die Saiten. Er brachte die Geige zum Weinen, dass es mit die Kehle zusammenzog, und um nächsten Moment ließ er sie jubilieren, dass ich beinah mitlachen musste. Was er mit der Geige und dem Bogen – und durch sie mit mir – tat, war Magie. Nein, keine Maie: dunkle Hexerei! Seinem Vater von Teufel persönlich in die Wiege gelegt und an ihn, den Sohn, weitervererbt. Zum ersten Mal konnte ich verstehen warum man ihn damals Teufelsgeiger genannt hatte: Er schlug mich in seinen Bann. Und selbst wenn ich mich ihm hätte entziehen wollen – ich hätte es nicht gekonnt.
Keines der Stücke übernahm er eins zu eins. Manchmal glaubte ich ein Motiv oder eine etwas längere Tonfolge zu erkennen. Doch gleich darauf verwandelte Julien sie wieder zu etwas anderem, Neuem. Er wechselte von Klassik zu Rock, von modernem zu lang Vergessenem, nahm mich gefangen und ließ mich die Zeit vergessen. Zu Anfang meinte ich, on dem Bogenstrichen noch seine Anspannung zu spüren, doch je länger er spielte, umso mehr verlor er sich in der Musik – und entführte mich ebenso in sie.
Nur das letzte Stück erkannte ich eindeutig: Who wants to live forever? von Queen. Oder das, was Julien daraus machte. Unendlich süß und sehnsuchtvoll – und gleichzeitig so unendlich traurig, dass ich die Hand nach ihm ausstreckte. Mit jedem Strich seines Bogens war Julien mir am Ende näher gekommen, hatte sich weiter zu mir gebeugt. Jetzt senkte er die Geige. Seine Augen schimmerten im Licht der Kerzen. Noch immer in der einen Hand den Bogen und in der anderen sein Instrument lehnte er sich so dicht zu mir, dass ich seinen Atem spüren konnte. Für eine Ewigkeit, die nicht mehr als Sekunden gewesen sein konnten, verharrte er so. Reglos. Dann glitt sein Mund über meinen. Sacht. Zärtlich. Beinahe fragend. Sein Kuss wurde fester, tiefer, ohne dabei auch nur für einen Bruchteil eines Herzschlags seine Sanftheit zu verlieren. Als er ihn brach, lehnte er behutsam die Stirn gegen meine. Ich schloss die Augen.
„Si notre amour est un rêve, ne me réveille jamais’’, flüsterte er. Seine Lippen streiften meinem Mundwinkel, dann war seine Stirn wieder an meiner. „Versprich es mir. Versprich mir, dass du mich niemals aus diesem Traum wecken wirst.“
„Versprochen“, wisperte ich zurück, ohne die Lieder zu heben. „Wenn du mir sagst, was dein Traum ist.“ Es war verrückt, aber ich glaubte sein Lächeln zu spüren.
„Du.“
Seite 198 – 200
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